Volkhard Stahl
Musikpädagoge - Autor -  Dirigent - Trompeter

     

Bündnis für Musikunterricht in Hessen


Arbeitskeis für Schulmusik Hessen (AfS), der Verband deutscher Musikschulen Hessen (VdMH) und der Verband Deutscher Schulmusiker Hessen (VDS-Hessen)


1. Das Bündnis

Der Arbeitskeis für Schulmusik Hessen (AfS), der Verband deutscher Musikschulen Hessen (VdMH) und der Verband Deutscher Schulmusiker Hessen (vds hessen) haben sich am 18.11.2002 in Wiesbaden zum “Bündnis für Musikunterricht in Hessen” zusammengefunden, um die Öffentlichkeit über die Notwendigkeit des landesweiten Musikunterrichtes an den allgemein bildenden Schulen sowie an den Musikschulen zu unterrichten und die politischen Entscheidungsträger zum Handeln zu bewegen.


2.1 Die Bedeutung des Musikunterrichtes

Die je eigenen Sichtweisen von Welt, wie sie die Künste anbieten, sind eine unverzichtbare Ergänzung zur wissenschaftlichen Rationalität. Eine Schule, in der ästhetische Erziehung und Bildung nur am Rande stattfinden, ist pädagogisch unvertretbar. Wir sind besorgt, dass die ästhetische Bildung in der Schule zunehmend vernachlässigt wird, bedauern zutiefst den Rückgang des Musikunterrichts in den Schulen.

Völlig unverständlich ist die Verringerung des Musikunterrichts auch vor dem Hintergrund aktueller empirischer Untersuchungen zu den positiven Auswirkungen von Musikerziehung auf die Persönlichkeitsentwicklung und das Sozialverhalten. Die viel beachtete Langzeitstudie von H. G. Bastian an Berliner Grundschulen hat erst kürzlich nachgewiesen, dass musikalische Bildung die soziale Kompetenz, die Entwicklung von Sensibilität und Empathie, die Intelligenz, die allgemeinen schulischen Leistungen und die Konzentrationsfähigkeit der Kinder und Jugendlichen fördert.

Sie hat ebenfalls nachgewiesen, dass verstärkter Musikunterricht die allgemeine Lernmotivation und Lernleistung steigert und somit einen persönlichkeitsbildenden „Mehrwert“ hat.

Der Erhalt unserer Musikkultur ist keine Privatangelegenheit. Musikunterricht ist wie alle Bildung vor allem eine öffentliche Aufgabe. Musikalische Bildung darf nicht allein dem Markt und seinen Gesetzen überlassen werden, Musikmachen darf nicht zum Privileg der wirtschaftlich Bessergestellten werden.


2.2 Musikunterricht nach PISA

Die Veröffentlichung der PISA-Studie hat die bildungspolitische Diskussion in Deutschland neu entfacht. Aber die als alarmierend empfundenen Ergebnisse der Studie haben bisher leider nicht zu einer grundlegenden Bildungsdebatte sondern zu einer Verengung geführt, in der nur noch über „Hauptfächer”, vor allem über Deutsch, Mathematik und Englisch gesprochen wird.

Diese Reduktion von Bildung unter dem Diktat von Ausbildung ist falsch. Wir brauchen eine Bildung, die den jungen Menschen Anregungen gibt, sowohl ihre kognitiven, als auch sozialen, emotionalen und ästhetischen Kompetenzen zu entfalten. Bildung muss den ganzen Menschen mit all seinen unterstützenswerten Kräften im Blick haben. Zu dieser Bildung gehören die ästhetischen Fächer, gehört auch unverzichtbar der Musikunterricht.

Wir mahnen außerdem eine Bildungsdiskussion an, die Bildung auf das ganze Leben des Menschen bezieht; eine Bildungsdiskussion, die Bildung nicht alleine unter dem Gesichtspunkt ihrer Zweckmäßigkeit und Verwertbarkeit für den Arbeitsmarkt beurteilt, sondern Bildung als Lebensform begreift; eine Bildungsdiskussion, die sich nicht nur auf Schule, Hochschule und Berufsausbildung konzentriert, sondern die die notwendige Vielfalt der Bildungsorte und die Vielgestaltigkeit von Bildungsprozessen anerkennt.

Bei PISA geht es nur um die Schule. Aber auch Familie, Kindergarten, Musikschule und andere außerschulische Lernorte vermitteln Bildung. Das Zusammenwirken all dieser Lernorte ist für eine umfassende ganzheitliche Bildung von Kindern und Jugendlichen unbedingt notwendig. Die außerschulischen Lernorte müssen erheblich stärker einbezogen und gefördert werden als bisher.

Die Entwicklung zur Ganztagsschule bietet die große Chance für Kooperationen von allgemein bildender Schule und außerschulischen Lernorten, die die ganzheitliche Persönlichkeitsentwicklung der Kinder und Jugendlichen unterstützen.

Forschungsergebnisse belegen, dass die menschlichen Fähigkeiten von den Lernerfahrungen abhängen, die der Mensch im Kleinkind- bzw. Säuglingsalter macht. Deshalb sind alle Ansätze einer musikalischen Frühförderung im Kleinst- und Kleinkindalter von besonderer Bedeutung.

Aber unter den Unterzeichnenden besteht Einverständnis: Der Musikunterricht in Vorschule und allgemein bildender Schule ist der erste Lernort in Musik. Nur hier erreichen wir alle Kinder und Jugendlichen. Deshalb gilt diesem Musikunterricht unsere erste Aufmerksamkeit.


3. Musikunterricht in Hessen
: Die Situation des Musikunterrichtes im Land Hessen stellt sich wie folgt dar:

3.1 In Vorschule und allgemein bildende Schule

1.            Dem Fach Musik soll in den sozialpädagogischen Ausbildungsgängen ein stärkeres Gewicht verliehen werden. 
Wenn Erzieher und Erzieherinnen besser als bislang ausgebildet werden, können z.B. Fehler im Umgang mit der Kinderstimme oder beim Instrumentalspiel vermieden werden.

2.            Es gibt beim Fach Musik in den einzelnen allgemein bildenden Schulformen gravierende Unterschiede in der Lehrerversorgung und in der Unterrichtsabdeckung.

                     Der Musikunterricht an der Grundschule wird in den seltensten Fällen von ausgebildeten Fachkräften erteil. Sonst fällt er entweder ersatzlos aus oder muss von nicht für das Fach Musik ausgebildeten Kolleginnen und Kollegen unterrichtet werden.

                     Es gibt zu wenig ausgebildete Musiklehrerinnen und -lehrer für die Haupt- und Realschule, so dass der Musikunterricht in vielen Fällen ausfällt. Die Stundentafel sieht für diese Schulform auch nur 6 Std. (Kl. 5-10) vor.

                     Obwohl im Gymnasium die Situation für den Musikunterricht noch am besten ist, gibt es auch hier große Probleme mit dem Nachwuchs. Eine Ursache dafür ist die immer stärker werdende Restriktion für das Fach Musik in der gymnasialen Oberstufe.

3.            Die Zahlen der Schülerinnen und Schüler, die Musik in der Oberstufe gewählt haben und aus denen zumeist die Interessenten für musikpädagogische Studienfächer kamen, sind über die letzten Jahre hinweg stark rückläufig. 
So sank z.B. die Beteiligung im Grundkurs Musik in der Jahrgangsstufe 13 von 2896 (Schuljahr 1998/1999) auf 2497 (Schuljahr 2000/2001). Zum Vergleich steigen in Baden-Württemberg die Teilnehmerzahlen: von 3302 (Schuljahr 1998/1999) auf 3496 (Schuljahr 2000/2001). Die Gründe dafür liegen u.a. auch in den rechtlichen Einschränkungen, in der Oberstufe das Fach Musik wählen und als Abiturprüfungsfach belegen zu können.

4.            Es gibt somit nur wenige Interessenten für den Beruf des Musiklehrers an allgemein bildenden Schulen. 
Zumal als weitere Hürde eine Aufnahme- bzw. Eignungsprüfung an der Musikhochschule bzw. den Universitäten hinzukommt, die zudem oft in ihren Anforderungen überzogen und wenig an der Schulpraxis orientiert ist. Der Musiklehrermangel wird in Zukunft also noch zunehmen. Besonders gravierend ist die Situation in der Grundschule.

5.            Für den „verkürzten gymnasialen Bildungsgang“ in einigen hessischen Schulen, d.h. acht statt neun Jahren gymnasiale Bildung, ist der Musikunterricht um 25% gekürzt, da durch das Wegfallen der Klasse 6 der musikalischen Bildung dieser Kinder zwei Musikstunden fehlen. 
Damit liegt Hessen mit lediglich 6 Stunden Musik in den Klassen 5-10 zusammen mit Hamburg an letzter Stelle aller Bundesländer! Bemerkenswert ist demgegenüber, dass einige Länder, die die Gymnasialzeit auf 8 Jahre verkürzen wollen, die vorgesehenen Musikstunden nicht kürzen (z.B. Baden-Württemberg) bzw. sogar erhöhen (z.B. Mecklenburg- Vorpommern).

6.            In fast allen Bundesländern sehen die Stundentafeln mehr Musikunterricht vor. 
Z.B. im gymnasialen Bildungsgang in den Bundesländern Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und Thüringen für die Kl. 5-10 jeweils 10 Musikstunden, in Hessen sind es dagegen nur 8! Da einige Länder, in denen der achtjährige gymnasiale Bildungsgang Regelschule ist (Saarland, Sachsen), für die Kl. 5-10 ebenfalls 8 Stunden vorsehen, bedeutet dies, dass Hessen mit zu den Schlusslichtern im Musikunterrichtsangebot aller Bundesländer zählt.

7.            Für Ganztagsschulen und Schulen, die ein Ganztagesangebot unterbreiten, gibt es (noch) keine Konzeption, wie die Musikschulen und das sonstige musikalische Nachmittagsangebot einbezogen werden sollen. 
Es wird in diesem Zusammenhang auf das Bundesland Rheinland-Pfalz verwiesen, in dem der dortige Landesmusikrat eine solche Konzeption schon erarbeitet hat und in dem die Kooperationen zwischen der allgemein bildenden Schule und den außerschulischen Musikverbänden in Musterverträgen festgehalten sind.

8.            Einige in den letzten Jahren vorgenommenen Maßnahmen werden sehr positiv gesehen:

                     Die äußerst positiv angenommenen Weiterbildungsmaßnahmen des hessischen Kultusministeriums für den Kollegenkreis, der in der Grundschule das Fach Musik unterrichtet, dafür aber nicht ausgebildet ist, werden ausdrücklich begrüßt.

                     Das Projekt „Kooperation von Musikschule und allgemeinbildender Schule“, das vom Kultusministerium und dem Ministerium für Wissenschaft und Kunst gemeinsam durchgeführt wird, läuft z. Zt. erfolgreich an 24 hessischen Schulen und soll ausgeweitet werden.

 

   Die Vereinheitlichung der „Schulen mit erweitertem Musikunterricht“ zu „Schulen mit besonderer Förderung in Musik“ bzw. “Schulen mit Schwerpunkt Musik“ ist positiv zu bewerten. Es fehlt allerdings noch ein Curriculum für diese beiden Schultypen.

   Sehr positiv ist die zusätzliche Zuweisung einer halben Lehrerstelle für die Schulen mit „Schwerpunkt Musik“ zu werten.

   Die finanzielle Unterstützung der von den Verbänden initiierten und organisierten Fortbildungsveranstaltungen und musikalischen Aktivitäten durch das Hessische Kultusministerium (Regionalbegegnung „Schulen in Hessen musizieren“ und das jährliche Landeskonzert „Musikpädagogisches Forum“ alle zwei Jahre in der Universität Gießen; der jährliche Musikpädagogische Tag in der Frankfurter Musikhochschule, die Response-Projekte sowie „Klasse musiziert“ mit regionalen Veranstaltungen und zentralem Abschlusskonzert) wird als sehr positives Zeichen der Unterstützung gesehen. 



   3.2 In der Musikschule

1.            Die hohen Unterrichtsgebühren an den Musikschulen führen zu einer sozialen Selektion und widersprechen dem bildungspolitischen Auftrag, die allgemeine Teilhabe an der Musikkultur zu gewährleisten.

2.            Das Netz der Musikschulen ist bisher noch nicht flächendeckend ausgebaut. Somit finden nicht alle potentiellen Schüler/-innen ein geeignetes Unterrichtsangebot in erreichbarer Nähe.

3.            Für die Mehrheit der Musikschullehrkräfte existieren weder sozial angemessene noch vertraglich verlässliche Arbeitsplätze. Die somit fehlende Bindung der Lehrkräfte an die Musikschulen führt oftmals zu einer Diskontinuität des Musikschulunterrichts.

4.            Den meisten Musikschulen stehen zu wenig adäquat ausgestattete Unterrichtsräume zur alleinigen Nutzung zur Verfügung.

5.            Die Rahmenbedingungen der Musikschularbeit sind weder finanziell noch strukturell verlässlich abgesichert, da sie noch immer zu den sogenannten freiwilligen Leistungen zählen.


4. Unsere Forderungen

Wir fordern mehr Musikunterricht in den Schulen, mehr musikalische Bildung und Ausbildung in und außerhalb der Schule. Dazu sind folgende von Maßnahmen dringend notwendig:

   Ein Gesamtkonzept “Musikerziehung in Hessen” wird erstellt.


   Die musikalische Frühförderung (Eltern-Kind-Kurse, Frühinstrumentaler Unterricht, Musik in den Kindertagesstätten etc.) wird erheblich ausgeweitet.


   Musik wird ein Hauptfach in der Ausbildung zum Erzieher und zur Erzieherin.


   Schulmusikerinnen und Schulmusiker werden bevorzugt eingestellt, besonders in den Grundschulen.


   An jeder Grundschule unterrichtet mindestens eine ausgebildete Musik-Fachkraft.


   Alle Absolventinnen und Absolventen der Studienseminare mit dem Unterrichtsfach Musik werden eingestellt.

 

   In den Kindertagesstätten, Vorschulklassen und Grundschulen wird grundsätzlich täglich gesungen, getanzt und auf Instrumenten gespielt.


   Jedes Kind erhält im Laufe der ersten sechs Schuljahre die Möglichkeit, ein Instrument zu erlernen (wie es beim PISA-Sieger Finnland der Fall ist).


   In den allgemeinbildenden Schulen erhält jedes Kind von Klasse 5 bis einschließlich der Klasse 10 einen durchgängig zweistündigen Musikunterricht.


   Den Schulen werden ausreichende Personalmittel, Sachmittel und für das praktische Musizieren geeignete Fachräume zur Verfügung gestellt.


   In der gymnasialen Oberstufe wird für alle Jahrgänge das Angebot von Musikunterricht in Form von dreistündigen Grundkursen oder fünfstündigen Leistungskursen garantiert.


   Lehrkräfte anderer Fächer, die bereit sind, auch Musikunterricht zu erteilen, sind durch spezielle Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen zu unterstützen. Dies gilt – wegen des Klassenlehrerprinzips – ganz besonders für die Grundschule.


   Seiteneinsteiger in den Musiklehrerberuf (Diplom-Musikerzieher, Kirchenmusiker etc.) erhalten eine angemessene pädagogische Weiterbildung.


   Um mehr junge Menschen zu motivieren, Schulmusik zu studieren, werden Rahmenbedingungen für entsprechende Projekte geschaffen.

 

   Alle Bemühungen an den Musikausbildungsstätten, die Studierenden besser auf die Anforderungen der Schulwirklichkeit vorzubereiten und sie zugleich in die Lage zu versetzen, ihre zukünftigen Schülerinnen und Schüler ausreichend zu fordern und zu fördern, werden unterstützt.


   Die Ausbildungsgänge im Fach Musikpädagogik (Diplom und Staatsexamen) werden reformiert. Ein die Studiengänge übergreifendes Modulsystem wird eingeführt.


   Ein zentrales Merkmal der Ganztagsschulen sollen Kooperationen mit außerschulischen kulturellen Lernorten sein. Für die Musikerziehung werden Konzepte entwickelt, in denen die strukturelle Sicherung und die Qualitätssicherung der Musikschulen enthalten sind.


   Für die Kooperation zwischen den (Staats-)Theatern, den staatlich geförderten Orchestern, den HR- Klangkörpern (RSO Frankfurt, Big-Band) und anderen Musikveranstaltern mit den Schulen werden zusätzliche Personal- und Sachmittel zur Verfügung gestellt. 
Wir bieten den politischen Gremien, allen voran dem Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst und dem Hessischen Kultusministerium, auch weiterhin unsere fachliche Beratung bei der Realisierung der genannten Forderungen an, werden alle Entwicklungen in dieser Richtung im Rahmen unserer Zuständigkeiten und Möglichkeiten engagiert unterstützen und durch eigene Maßnahmen zusätzlich erweitern.